Weimarergasse

Durch die Errichtung der Flüchtlingsstation während des Ersten Weltkriegs entstand unterhalb des Krankenhauses und damit etwas außerhalb des damaligen Ortsgebiets ein neuer Stadtteil. Die Flüchtlingsstation erstreckte sich mit Ausnahme zweier Gemeinschaftsgebäude auf den Bereich zwischen Schillergasse und Ebendorferstraße und um dem vorhandenen Bedürfnis nach Bauplätzen Rechnung zu tragen bzw. die Lücke zum restlichen Stadtgebiet zu verringern wurden Mitte der 1920er Jahre westlich der Flüchtlingsstation gelegene Äcker zu Baugründen aufgeschlossen. Im April 1925 erfolgte durch Beschluss des Mistelbacher Gemeinderats die Benennung der Straßen in der ehemaligen Flüchtlingsstation bzw. der neuentstandenen Straßenzüge im angrenzenden Siedlungsgebiet und zu diesen zählte auch die Straße die Gegenstand dieses Beitrags ist. Die Mutmaßung1, dass die Namensgebung der Weimarergasse wohl in Zusammenhang mit der gleichzeitigen Benennung der in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Goethe- und Schillergasse stünde, klingt plausibel – ist aber falsch. In dem im Mistelbacher Bote auszugsweise veröffentlichten Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 4. April 1925 heißt es betreffend die Namensgebung dieser Gasse: „Zur Erinnerung an Weimar, der Geburtsstätte des Anschlusswillens an Deutschland“.2 Es handelt sich also um eine Reverenz an jenen Ort an dem die verfassungsgebende Nationalversammlung der deutschen Republik in den Jahren 1919-1920 tagte. Dieser Straßenname ist damit Ausdruck des während der Ersten Republik quer durch alle politischen Lager und Bevölkerungsschichten weit verbreiteten Wunsches nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich, der jedoch im Friedensvertrag von Saint-Germain untersagt worden war.

Die Ideologie des Nationalsozialismus war durch einen besonderen, mit großem Pathos inszenierten Totenkult geprägt, der seinen Anfang bei den Gefallenen des gescheiterten Putschversuches von 1923 nahm und der die Toten der Partei zu Märtyrern hochstilisierte. Ganz im Sinne dieser Totenverehrung wurde im November 1938 durch Entschluss des vom NS-Regime eingesetzten Gemeindeverwalters Adolf Schödl, die Weimarergasse, die die Nazis an die ihnen verhasste Weimarer Republik erinnerte, in „(Ernst) vom Rath-Straße“3 umbenannt. Knapp zwei Wochen zuvor war der deutsche Diplomat und Botschaftssekretär Ernst vom Rath von Herschel Grynszpan, einem in Deutschland geborenen Studenten jüdisch-polnischer Herkunft, in Paris erschossen worden. Die NS-Führung nutzte dieses Attentat als Anlass für die Novemberpogrome in der Nacht vom 9. November 1938, und stellte in ihrer Propaganda diese planmäßig durchgeführten und von höchster Stelle angeordneten Terrormaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung als „spontane Erhebung des Volkszorns“ dar. Die Bekanntgabe der Neubenennung dieser Straße erfolgte im Rahmen einer Kundgebung des Gauleiters Dr. Jury in Mistelbach am 20. November 1938 und gleichzeitig wurden auch die neuen Straßennamen Wilhelm Gustloff-Straße (Franz Josef Straße) und Adalbert Schwarz-Gasse (Gspanngasse) eingeführt, die ebenfalls nach getöteten Nationalsozialisten benannt wurden.4 1945 erhielt die Gasse wieder ihren ursprünglichen Namen.

Wo befindet sich die Weimarergasse?

 

Quellen (und Anmerkungen):

  1. Spreitzer, Prof. Hans: „Mistelbachs Straßen- und Gassennamen“ in: Mistelbacher-Laaer Zeitung, 24. September 1955, S. 2f;
    Leithner, Johann: „Über unsere Straßennamen und deren Bedeutung“ In: Exl, Mag. Engelbert: 125 Jahre Stadt Mistelbach – Ein Lesebuch (1999), S. 256
    (Spreitzer schrieb bereits, dass die Benennung entweder in Zusammenhang mit der Goethegasse stünde, oder mit dem Ort an dem nach dem Ersten Weltkrieg die „deutsche Verfassung gezimmert wurde“. Auch Exl führt beide Möglichkeiten an, hielt jedoch die zweite, letztendlich richtige Variante für höchst unwahrscheinlich.)
  2. Mistelbacher Bote, Nr. 16/1925, S. 2
  3. In der Grenzwacht lautet der Name „Ernst von (sic!) Rath-Straße“, im kleinen Volksblatt: „Vom Rath-Straße“
  4. Grenzwacht, Nr. 11/1938, S. 9;
    Das kleine Volksblatt, 22. November 1938, S. 8 (ONB-ANNO)
Dieser Beitrag wurde unter Straßen veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.